Weiter hinten passiert dann mehr …

Weiter hinten passiert dann mehr …

Charlotte K. aus Frankfurt schreibt uns:
Liebe Münchner Schreibakademie, mehrere Agenturen haben meinen Roman abgelehnt, eine hat auf mein Nachfragen hin mitgeteilt, dass mein Anfang nicht spannend wäre und deshalb hätte man auch nicht weitergelesen! Das hat mich wirklich schockiert, ich finde, man kann doch vom Leser erwarten, dass er sich auf meine Story einlässt, dieser Roman ist doch viel mehr als nur der Anfang. Es soll sich ja auch alles noch steigern. Da muss ich doch nicht alles Pulver schon vorne verschießen oder liege ich da total falsch?

Vielen Dank für Ihre Frage. Leider leben wir im 21. Jahrhundert, es gibt sehr viele Möglichkeiten sich zu unterhalte und niemand hat viel Zeit übrig. Und nicht nur deshalb ist es mehr als sinnvoll den Anfang so spannend wie möglich zu gestalten. Um einen großartigen Autor zu zitieren:

„A good opener, first and foremost, fails to repel … It’s interesting and engaging. It lays out the terms of the argument, and, in my opinion, should also in some way imply the stakes … If one did it deftly, one could in a one-paragraph opening grab the reader, state the terms of the argument, and state the motivation for the argument. I imagine most good argumentative stuff that I’ve read, you could boil that down to the opener.“ Sagt der Bestsellerautor David Foster Wallace in diesem Buch: Quack This Way: David Foster Wallace & Bryan A. Garner Talk Language and Writing.

Das bedeutet nun nicht, dass Sie gleich in der ersten Szene ein paar Bomben explodieren  und  jemanden qualvoll sterben lassen müssen. Ganz im Gegenteil, damit kann man niemanden berühren, denn LeserInnen nehmen keinen Anteil an jemandem, den sie noch nicht kennen.

In Wahrheit geht es beim Anfang tatsächlich genau darum: Sie müssen den Leser berühren! Dies kann auf viele verschiedene Arten erfolgen. Machen Sie neugierig, erzeugen Sie Spannung wie z.B. Alice Seibold in ihrem Welterfolg „In meinem Himmel“: Mein Nachname war Salmon, also Lachs, wie der Fisch; Vorname Susie. Ich war vierzehn, als ich am 6. Dezember 1973 ermordet wurde.
Bäm – da erzählt jemand, der ermordet wurde! Wenn das nicht neugierig macht!

Schaffen Sie eine szenische Situation, wie William S. Burroughs in Naked Lunch:
Ich spüre, wie die Bullen das Haus einkreisen, wie sie da draußen überall ihren Voodoo-Zauber abziehen und ihre verhexten Spitzel in Stellung bringen, ihre Beschwörungsformeln mauscheln über meinem Besteck, das ich in der U-Bahn-Station am Washington Square wegschmeiße, ehe ich übers Drehkreuz springe, die zwei Eisentreppen runter, und einen A-Train nach Harlem erwische…

Spielen Sie mit den Erwartungen wie Carlo Collodi: Es war einmal… ‚Ein König!‘ werden sofort meine kleinen Leser ausrufen. Nein, Kinder, dieses Mal habt ihr es nicht erraten. Es war einmal ein Stück Holz. (Pinocchio),
oder verstören Sie, wie Günter Grass in der „Blechtrommel“:
Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, lässt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann.

Sie können es aber auch ganz trocken und knapp angehen wie Wolf Haas in all seinen Brenner-Romanen: Jetzt ist schon wieder was passiert.

Oder aber Sie sorgen für einen Lacher, wie Bettina Brömme in „Sommerfinsternis“: Im Sommer vor der Jahrtausendwende verlor Susanna ihren Job, ihre Tochter ihre Jungfräulichkeit und ihre Schwiegermutter den Verstand.

Und am allerbesten wäre es, wenn Sie mit diesem Anfang dem Leser ein Versprechen geben, dass Sie dann in Ihrem Roman auch halten. Bei den hier erwähnten Beispielen liegt im ersten Satz genau das, was Foster Wallace oben in dem Zitat fordert, nämlich, dass im besten Fall im Anfang schon die ganze Geschichte enthalten ist. Auch wenn LeserInnen dies nur unterschwellig spüren, bringt es sie dazu, weiterzulesen. Neugierig zu sein. Und dem wird sich dann vermutlich auch ein potentieller Agent nicht entziehen können.
Viele AutorInnen schreiben die ersten Sätze erst dann, wenn sie den Roman bis zum Ende geschrieben haben.

In den meisten Schreibratgeber gibt es  immer auch einen Abschnitt zum Anfang. Besonders ausführlich befasst sich Les Edgerton in seinem Buch damit: „Hooked: Write Fiction That Grabs Readers at Page One & Never Lets Them Go“, Writer’s Digest Books, 2007

Wer beim Planen oder Schreiben nicht weiterkommt, darf uns gerne kontaktieren – wir werden Ihre Probleme stellvertretend vorstellen und knackige Sofort-Hilfe-Tipps geben (wenn möglich mit Buchempfehlungen zum Vertiefen des Themas). Fragen bitte schicken an: schreib@münchner-schreibakademie.de

 

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