Alljährlich verfallen AutorInnen im Monat November in einen Schreibrausch – da wird nämlich der NaNoWriMo, also der „National Novel Writing Month“, ja, man kann schon sagen, gefeiert. Weltweit versuchen SchriftstellerInnen in nur einem Monat einen ganzen Roman zu schreiben. Wir schauen ab sofort einmal die Woche unserer Schweizer Kollegin Dorothe Zürcher über die Schulter, die sich dankenswerterweise bereit erklärt hat, uns an ihrem ebenso großartigen wie abenteuerlichen Experiment teilhaben zu lassen. Also, Dorothe, berichte uns!
Alle Jahr wieder fallen meine Autoren-Kolleginnen in Ekstase, wenn sie sich auf das Novemberschreiben vorbereiten. Von unglaublichen Schreiberlebnissen ist die Rede, von ganz neuen Ideen, Projekte, die nie zustanden gekommen wären, und vom weltweiten Austausch mit anderen Schreibenden.
Bis jetzt blieb ich skeptisch. Nicht, dass ich mir nicht zutraue einen Roman von 50 000 Wörtern zu schreiben. Aber 50 000 Wörter in einem Monat und das im November, wenn der Weihnachtsstress schon vor der Türe steht?
Dieses Jahr ist es anders. Ich werde mitschreiben. Überraschend habe ich für Anfang November vier Tage frei bekommen. Das war der Auslöser. Nun will ich wissen, ob ich auch unglaubliche Schreibkräfte entwickeln und unentdeckte Phantasien ausleben kann.
Sorgen macht mir nur, dass ich beim Schreiben mehr auf die Wortanzahl als den Inhalt schauen würde und Sorgen macht mir mein Projekt an sich: Was soll ich eigentlich schreiben?
Meine beiden aktuellen Projekte benötigen viel Recherche. Ein echter Nano-Schreiberling fängt jedoch mit einem neuen Roman an. Ich entscheide mich für den Mittelweg und werde für meinen Fantasyroman, der letztes Jahr publiziert worden ist, eine Fortsetzung schreiben. Der Weltenaufbau und die Personenkonstellation existieren schon; ich feile vor dem 1. November noch etwas am Plot.
Ende Oktober melde ich mich an, suche in meiner Bekanntschaft einige „NaNo-Buddies“ für das gegenseitige Anfeuern. Ich werde Mitglied in einem Internet-Forum, wo man mir Unterstützung bei Schreibstau und Soforthilfe für eingefrorene Plots verspricht. Ich beteure, einem Mitschreibenden im November ein NaNo-Hilfspaket zu senden und werde selber eines bekommen. Somit bin ich gerüstet.
Am 31. Oktober verzichte ich darauf, in der Stadt auf die NaNo-Willkommensparty zu gehen. Ich werde auch nicht um 00.01 zu schreiben beginnen. Aber ich stelle den Wecker.
1. November, der National Writing Month hat begonnen: 1667 Wörter müsste ich schreiben, um das Tagessoll zu erreichen. Das ist einfach an einem Sonntag. Ich entscheide mich aber, in der ersten Woche doppelt so viel zu schreiben, weil ich frei habe.
Der Anfang ist schnell gemacht. Ich hatte ihn schon unzählige Male im Kopf hin und her gewälzt. Danach bin ich erstaunt, wie lange ich für 3300 Wörter benötige. Wenn das an jedem Tag so läuft?
Um mein Ego zu beruhigen, schaue ich nach, wie viel meine Buddies geschrieben haben. Ich bin in der Mitte, das beruhigt mich. Im Forum frage ich, wie man es mit dem Überarbeiten hält. Den Text nicht überarbeiten, rät man mir, das koste nur Zeit, überarbeitet werde im Dezember. Das entspricht mir nicht, beim Überarbeiten entdecke ich die Fehler im Ablauf und es fallen mir weitere Szenen ein.
2. November: Dauernd klingelt das Telefon. Ich komme gar nicht vorwärts. Ein Tagessoll kann ich bewältigen, mehr nicht. Ich bin unzufrieden und melde gar nicht im Forum.
3. November: Zwei Tage reise ich in die Berge. Dort möchte ich ungestört so viel schreiben, wie ich kann. Die ersten 2000 Worte kratze ich mühsam zusammen und schaue dauernd auf die Wortangabe unten links. Dann fällt mir plötzlich ein, dass ich Rückblenden einsetzen kann. Ich führe neue Personen ein, damit entstehen weitere Szenen. Plötzlich bin ich Fluss und es schreibt sich von selbst. Mein Tagespensum beende ich mit 5000 Worten.
4. November: Immer noch in der Zurückgezogenheit bin ich froh, dass ich meinen Roman aus zwei Perspektiven erzähle. So bekomme ich zu den Protagonisten mehr Distanz. Sonst drehen sich meine Gedanken nur noch um sie.
Mein Schreibstil verändert sich: Normalerweise spare ich mit Worten und lasse den Leser vieles zwischen den Zeilen erraten. Nun schweife ich ab und erkläre jede Kleinigkeit. Hat das damit zu tun, dass ich täglich die Wortanzahl meines neuen Romans der Welt preisgebe?
5. November: Wieder Zuhause habe ich zuerst unzählige Dinge zu erledigen. Meine 3300 Worte schaffe ich nur ganz knapp. Ich müsste dringend einige Szenen überarbeiten, weil sich der Ablauf verändert hat. Dafür fehlt mir aber die Zeit. Ich fange also an, eine Liste zu führen, was im Dezember überarbeitet werden muss.
Im Forum feiern einige schon ihre ersten 25 000 Worte. Meine Schreibkollegin rät mir, ruhig zu bleiben.
Wir drücken die Daumen für die kommenden Tage und sind gespannt, wie es weiter geht. Vielleicht lässt uns Dorothe ja auch einmal ein klein wenig in ihren Roman herein linsen. Aber erst einmal: Hut ab vor ihrer Disziplin!
Falls Ihr ein bereits fertiges Buch von Dorothe lesen wollt: In der High-Fantasy-Saga „Tamonia“ geht es um das Herzogtum Tamonia, ein Ort voller Phantasie und Mystik, genauso, wie um die Geschichte der zwei Schwestern Renia und Kerla, die auf dem Hof ihres Vaters, des Herzogs Ambuster, leben.
Dorothe Zürcher, 1973 in Zürich geboren, ist verheiratet und unterrichtet an der Oberstufe. Sie lebt in der Schweiz und ist eine leidenschaftliche Fantasy-Liebhaberin.